Die Bertha-von-Suttner-Schule im Spiegel der Presse

Archiv




Donnerstag, 27.01.2011

"Wer zu schwach war, wurde erschossen"

Schicksal: Die im KZ-Außenlager Walldorf internierte Vera Dotan erinnert sich an die schlimmste Zeit ihres Lebens

"Vera Dotan erinnert sich für uns an die schlimmste Zeit ihres Lebens", sagte Ute Zeller, Leiterin der Bertha-von-Suttner-Schule, als sie den Jugendlichen der Jahrgangsstufe 13 den Gast aus Israel vorstellte.

Vera Dotan ist eine der rund 1700 jüdischen Ungarinnen, die kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs im Konzentrations-Außenlager Walldorf die Rollbahn am Frankfurter Flughafen in Zwangsarbeit für die Nazis erbauten. Den Jugendlichen berichtete die kleine Frau mit kraftvoller Stimme über das, was sie im Jahr 1944 in Walldorf erleben musste. Trotz des dort erfahrenen Leids sei Walldorf in ihrem Herzen, weil man sich um die Aufarbeitung der grausamen Vergangenheit kümmere, sagte die Zeitzeugin.

Vera Dotan (Bildmitte) wurde als dreizehnjähriges Mädchen von den Nazis inhaftiert und im KZ-Außenlager Walldorf zu Schwerstarbeit an der Rollbahn des Frankfurter Flughafens gezwungen.
In der Bertha-von-Suttner-Schule berichtete sie über das Leid, das die deutschen Soldaten ihrer Familie zugefügt haben. An ihrer Seite sitzen Schulleiterin Ute Zeller (rechts) und
Lehrerin Margrit Geffert-Holl.
Foto: Timo Jaworr


Geboren 1931 in Budapest, verbrachte Vera Dotan eine Kindheit mit allen Vorzügen. "Ich hatte viele Spielsachen und Klavierstunden, aber am 19. März 1944 änderte sich alles", berichtete sie. An diesem Tag fielen die Nazis in die Stadt ein, sperrten die jüdischen Bewohner in ein Ghetto, aus dem zwei Monate lang niemand heraus kam. Dann wurden die Menschen in Zügen abtransportiert. "Drei Tage lang waren meine Mutti, mein Vater, mein Bruder und ich mit tausenden anderen unterwegs - ohne eine Toilette, ohne Essen."

Bei der Ankunft im Konzentrationslager Auschwitz wurde die Familie getrennt. Dass ihr Vater von den Nazis sofort ermordet wurde, erfuhr Vera Dotan erst nach Kriegsende. Sie selbst entkam nur aufgrund einer Laune eines SS-Soldaten dem Tod. Dieser schickte sie mit ihrer Mutter am Krematorium vorbei ins Lager.

Haare wurden abrasiert, Kleidung und Schuhe abgenommen, Tochter und Mutter getrennt voneinander eingewiesen. "32 Blocks gab es, in jedem 1000 Menschen. Ich habe mich rausgeschlichen und vor jedem Block den Namen meiner Mutter gerufen, um sie wiederzufinden."

Weil sie noch nicht in den Unterlagen der Nazis registriert war, konnte Dotan sich ins Lager C, wo ihre Mutter inhaftiert war, einschleichen. Lange blieben sie aber nicht in Auschwitz, dem Vernichtungslager. Die weiblichen Gefangenen aus Ungarn wurden nach Walldorf geschickt. "Ich erinnere mich an den langen Fußmarsch nach unserer Ankunft am Bahnhof. Wer zu schwach war, wurde einfach von den Soldaten erschossen. Gemeinsam mit meiner Cousine haben wir Mutti gestützt, weil auch sie nicht mehr bei Kräften war", sagte Dotan.

Ein Mal am Tag bekamen die Frauen ein kleines Stück Brot, mussten jedoch körperliche Schwerstarbeit erledigen. Wenn sie eine Kartoffel stahlen, wurden die Frauen gnadenlos verprügelt. Später seien die Frauen, die in der Küche arbeiteten, von den Soldaten angewiesen worden, die anderen Gefangenen zu verprügeln. "Wer nicht hart genug zuschlug, wurde wiederum von den SS-Leuten geschlagen." Hoffnung kam bei den Inhaftierten auf, als sie die Einschläge von Bomben hörten. "Das war paradox, weil sie auch auf uns hätten fallen können." Aber es war das erste Zeichen für das Ende der Nationalsozialisten.

Im Herbst 1944 wurden die Ungarinnen - von denen lediglich 350 am Ende des Zweiten Weltkrieges noch lebten - ins Konzentrationslager Ravensbrück abtransportiert. "Das war für uns das schlimmste Lager", berichtete Dotan. Zwei Wochen lang lagen sie in einem Zelt. Leute starben, die Leichen wurden nicht herausgeholt. Typhus brach aus. "Unnötige Arbeit mussten wir erledigen. An einem Tag schwere Steine schleppen, am nächsten Tag wieder zurück", erzählte die Zeitzeugin.

Sie und ihre Mutter blieben aber auch dort nicht lange, denn die Frauen sollten in den nahe gelegenen Werkshallen der Firma Siemens & Halske Zwangsarbeit verrichten. Der Name von Vera Dotan stand jedoch nicht auf der Liste der Arbeiterinnen. Nur weil beim Durchzählen eine Frau fehlte, konnte sie bei ihrer Mutter bleiben.

Die letzten Monate vor dem Ende des Kriegs musste Vera Dotan wieder ins Konzentrationslager Ravensbrück. "Etwas lag dort in der Luft, das haben wir gespürt." Bomben fielen, die Befreiung nahte. Doch die deutschen Soldaten gingen mit den Frauen aus dem Lager auf die Straße hinaus. "Das war der Beginn des Todesmarsches. Leute wurden erschossen, wenn sie nicht gingen. Die Straße war gepflastert mit Leichen." Eine der Bombardierungen nutzten Vera Dotan, ihre Mutter und sechs weitere Ungarinnen, um sich abseits der Straße in einem Schützengraben zu verstecken. Das mutige Unterfangen gelang. Mit französischen und belgischen Kriegsgefangenen flüchteten sie nach Berlin. Von dort führte ihr Weg über Prag zurück nach Budapest. "Der schwerste Moment, fast schlimmer als die Gefangenschaft in den Lagern, kam, als ich erfuhr, dass mein Bruder zwei Wochen vor der Befreiung gestorben war und ich das meiner Mutti sagen musste", erzählte Dotan den Schülern.

Mit den Jugendlichen und ihrem Sohn Gavriel besuchte Vera Dotan im Anschluss an den Vortrag in der Aula den Lehrpfad um das Außenlager in Walldorf. "Vor 20 Jahren waren wir mit der gesamten Familie im Elternhaus in Ungarn und dann in Auschwitz. Heute schaue ich mir diesen Ort an. Das ist wichtig für mich, um zu verstehen, was passiert ist, und auch wichtig für meine Mutter", sagte Gavriel Dotan. Durch die Begegnung würden die Erlebnisse seiner Mutter für ihn realer.

Bericht: Timo Jaworr

Quelle:Groß-Gerauer Echo vom 27.1.2011
echo-online.de