Informationstag: Kommunalpolitische Vereinigung im Kreis Groß-Gerau thematisiert Umgang mit Hochbegabten
Seit zwölf Jahren setzt sich das hessische Kultusministerium intensiv mit der Förderung Hochbegabter auseinander.
Dennoch sei Hochbegabung immer noch ein Reizthema, sagte Referatsleiter Walter Diehl bei einer Informationsveranstaltung
der Kommunalpolitischen Vereinigung im Kreis Groß-Gerau.
Um einen seriösen und zielgerichteten Umgang mit dem Thema Hochbegabung zu finden, stützt sich das
Kultusministerium auf wissenschaftlich fundierte Ergebnisse. Die liefert seit mehr als 20 Jahren der Pädagogische
Psychologe und Entwicklungspsychologe Detlef H. Rost von der Philipps-Universität Marburg. Im Marburger
Hochbegabtenprojekt (MHP) erforscht er die Lebensumwelt von Hochbegabten und deren Vergleichsgruppen. Wer einen
Intelligenzquotient (IQ) von 130 oder mehr hat, gilt als hochbegabt. Das sind rund zwei Prozent der Bevölkerung. Einen
IQ von 160 hat nur noch eine Person unter 34 000.
Hochbegabte seien keine Sonderlinge, sondern besäßen die Fähigkeit, Probleme effektiver und effizienter zu
lösen, erklärte der Wissenschaftler. Anhand der Intelligenz können zum Beispiel Rückschlüsse auf den Schulerfolg gezogen
werden, da Studien gezeigt haben, dass beides in Zusammenhang steht. 60 bis 70 Prozent der Intelligenz seien genetisch
veranlagt. 30 bis 40 Prozent würden von der Umwelt beeinflusst. ,,Hier können Schulen ansetzen und aktiv Einfluss nehmen",
sagte Rost.
Damit meint er, dass die Kinder gezielt gefördert werden müssen. Denn oftmals seien sie in den standardisierten
Unterrichtsformen unterfordert. Das müssten Eltern und Lehrer jedoch erst einmal erkennen. Begabung bedeute nicht Leistung,
betonte der Marburger Forscher. Rund zehn bis 15 Prozent der hochbegabten Schüler bringen schlechte Leistungen.
"Underachiever" nennt man diese Schüler, die oftmals - wie Tests gezeigt haben - von den Lehrern einfach
übersehen werden, wenn sie begabte Schüler benennen sollen. Deshalb hat es sich das Kultusministerium zur Aufgabe gemacht,
vor allem Lehrer zu sensibilisieren. "Jede Schule, die sich an mich wendet, bekommt eine Fortbildung", versicherte Walter
Diehl.
Die Kunst sei es, Hochbegabte im Unterricht nicht zu isolieren, sondern sie an ihre Leistungsgrenzen zu führen.
Nur so könnten positive Effekte für die gesamte Klasse erzielt und vor allem das Schulversagen der betroffenen Schüler
vermieden werden, so Diehl. Er hört von Eltern immer wieder die Forderung, dass ihre Kinder nicht aus den Klassen
herausgenommen und in spezielle Förderschulen gesteckt werden sollten. Um diesem Wunsch gerecht zu werden, hat das
Hochbegabtenreferat in den vergangenen Jahren ein Förderprogramm entwickelt, das gewährleisten soll, Schüler mit
besonderen kognitiven Fähigkeiten voranzubringen. Im aktuellen Schuljahr 2009/2010 tragen insgesamt 131 Schulen das
"Gütesiegel Hochbegabung" - 61 Grundschulen, 28 Gesamtschulen und 42 Gymnasien.
Diehl wies darauf hin, dass es sich um ein standortspezifisches Förderprogramm handelt, mit großem Freiraum und
individuellen Gestaltungsmöglichkeiten für die Schulen. Das Kultusministerium sieht sich als unterstützende Instanz, nicht
als verordnende Stelle. Es sei die Pflicht des Staates, jedem die Chance zu geben, das Optimum aus sich herauszuholen, so
Diehl.
Eine dieser Gütesiegelschulen ist die Bertha-von-Suttner-Schule in Mörfelden-Walldorf, die seit 2007 besondere
Förderangebote für hochbegabte Schüler bereithält. Die Koordinatorin der Begabtenförderung, Daniela Siepe, erklärte, dass
mit Hilfe von Umfragen im Lehrerkollegium besondere Begabungen erfasst würden - neben intellektuellen auch musische oder
sportliche. Den Schülern würden dann spezielle Zusatzangebote gemacht. Individuelle Förderpläne ermöglichen es Schülern,
Klassenstufen oder einzelne Fächer zu überspringen.
Zudem verfolgt die Schule mit der sogenannten inneren Differenzierung einen offenen Lehransatz. Das bedeutet eine
Individualisierung des Unterrichts, etwa mit verschiedenen Aufgabenniveaus für unterschiedliche Leistungsfähigkeit.
"Schüler sollen Methoden lernen", sagte Siepe. In Zukunft wolle die Schule noch stärker mit Universitäten und anderen
Gütesiegelschulen kooperieren.
Ein Problem der individualisierten Förderung ist der Übergang an weiterführende Schulen, wenn dort nach dem
klassischen Bildungsmodell gearbeitet wird. Die Kompetenzen und Lernstrategien der Schüler, die sie in der Grundschule
mitbekommen haben, können sie dann nicht in der gewohnten Form anwenden. Das Ergebnis sind häufig schlechte Noten. Da
gebe es noch Nachholbedarf, um eine durchgängige Förderung zu gewährleisten, hieß es in der Veranstaltung.
Selbstorganisiertes Lernen sei gut, man dürfe es aber nicht übertreiben, betonte Hochbegabtenforscher Rost. "Die beste
Schule ist die, die möglichst viele verschiedene Methoden einsetzt."
Bericht: mirk
Quelle: Groß-Gerauer Echo 15. Juni 2010
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